Eine Erfahrung, die wohl die meisten Weintrinker schon gemacht haben: Ein leckerer Wein, der mehr als nur ein paar Tage in der geöffneten Flasche (oder gar im Dekanter) verbrachte, ist zu einer Art Essig mit metallischem Beigeschmack mutiert. Bei näherem Hinsehen zeigt sich außerdem, dass seine ursprünglich brillante Farbe einen stumpfen Braunstich angenommen hat. Dabei handelt es sich um dasselbe Phänomen, das einen angeschnittenen Apfel oder eine Avocado braun und matschig werden lässt.

Der Wein hat zu viel Sauerstoff abbekommen und sich dadurch verändert, ist also oxidiert. Das bedeutet allerdings nicht, dass Oxidation immer schlecht ist. Kontrolliert angewandt, bewirkt sie Segensreiches und kommt bei so gut wie jeder Vinifizierung zum Einsatz.

Die Rolle der Oxidation

Sehr wahrscheinlich wurde der Wein Ihrer Wahl ein- oder mehrmals irgendeiner Form von Oxidation ausgesetzt, und zwar lange, bevor Sie die Flasche öffneten. Das ist nicht zu vermeiden und meistens auch erwünscht, denn es gehört zum Herstellungsprozess genauso wie zur Reifung. Es stimmt - Sauerstoff verwandelt jeden Wein in eine dünne, säuerliche Flüssigkeit, wenn er zu spät damit in Berührung kommt - wenn etwa die Zeit der Trinkreife bereits vergangen ist. Andererseits kann Oxidation genau das Element sein, das den Trauben ihre im Verborgenen schlummernde Aromen entlockt und einen Wein erst großartig macht.

Was geschieht während der Oxidation?

Egal, ob aus Versehen oder bewusst eingesetzt: Wenn ein Stoff oxidiert, findet ein Austausch von Elektronen in seinen Atomen oder Molekülen statt - der Charakter des Stoffes ändert sich. Bei der Gärung im offenen Tank oder dem Aufrühren der Hefe etwa führt der Kontakt mit Sauerstoff zu einer "Verdichtung" des Weins in mehrfacher Hinsicht, zum Beispiel zu kräftiger Farbe und deutlicher Aromenstruktur. Oxidative Alterung dagegen widerfährt jedem Wein, der in einem Holzfass oder einer tönernen Amphore reift. Sie kann aufdringliche Tannine abmildern, nussige, erdige Töne und Röstaromen hervorzaubern und hinter den "lauten" Primäraromen tiefere Sekundär- und Tertiäraromen zum Vorschein bringen. Kontrollierte Oxidation verläuft langsam und gehört zum Prozess der Vinifizierung. Rasanter kommt sie zum Zuge, wenn wir eine Flasche Wein öffnen. Unsere Atemluft besteht zu einem guten Fünftel aus Sauerstoff. Beim Dekantieren und beim Schwenken des Glases wird der Wein der Luft "schockartig" ausgesetzt, was ihn dazu bringt, sich zu öffnen und zusätzliche Aromen zu entfalten. Oder, im Falle eines sehr empfindsamen alten Weines, die Seele auszuhauchen.

Oxidation und biologische Alterung

Je frischer und fruchtiger ein Wein schmeckt, desto weniger Oxidation hat er erfahren. Vor allem weißen Weinen, die ihre beste Zeit hinter sich haben und im Glas braunstichig oder gar trüb wirken, sagt man gerne nach, sie hätten eine oxidative "Sherry-Note" entwickelt oder seien "madeirisiert" (siehe unten). Tatsächlich ist die Oxidation eine beim Ausbau von Amontillado, Oloroso oder Palo Cortado bewusst eingesetzte Praxis. Frischere Sherrys wie etwa der Manzanilla reifen dagegen unter einer dicken Florschicht, die so gut wie keinen Sauerstoff durchlässt. Diese Art des Ausbaus wird "biologische Alterung" genannt. Sie erzeugt ähnliche Geschmacksnoten wie die Oxidation. Weil sie dem Wein nichts von seinem frischen Charakter nimmt, findet sie als "Méthode traditionelle" Anwendung in der Herstellung von Champagner und anderen klassisch produzierten Schaumweinen.

Weitere oxidative Weintypen - zwei von vielen

- Tawny Port: Nach zwei bis drei Jahren Lagerung in großen Tanks werden Tawny Ports in kleinere Fässer ("Pipes") umgefüllt. Dadurch bekommen sie mehr Kontakt mit Sauerstoff und altern schneller. Dabei entfalten sie ihre klassischen Aromen von Nüssen, Schokolade, Kaffee, Karamell und/oder Trockenfrüchten, während sich die Farbe mit der Zeit - von tiefem Granatrot über Bernstein - zu sehr hellen Goldtönen verändert.

- Madeira: Der Legende nach verdanken wir den heute üblichen Ausbau des Madeiras der Hitze, der Wein in kleinen Fässern einst bei langen Schiffsreisen in die portugiesischen Überseegebiete ausgesetzt war. Heute lagern Holzfässer mit Madeira während der Gärung häufig mehrere Monate im Freien - unter dünnen Wellblechdächern, wo sich die Hitze sammeln kann, der Wein aber vor direkter Sonneneinstrahlung geschützt ist.

Zum Abschluss ein Vorschlag

Oxidation hat mehrere Gesichter. Denken Sie also künftig nicht sofort an "Weinfehler", wenn von ihr die Rede ist. Vielleicht begegnet Ihnen ja gerade ein Wein aus unserem ebrosia-Shop, der gerade dank der Oxidation das perfekte Geschmackserlebnis bietet.